Im Zuge meiner Bewerbung um die Landtagskandidatur wurde ich gefragt, wie ich die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter im Parlament vertreten könnte, wenn ich doch selbst kein klassischer „Arbeiter“ sei. Dabei sollte zunächst darüber diskutiert werden, wie das Bild des „Arbeiters“ in der Gegenwart zu verstehen ist. Dann wird klar, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Ein Debattenbeitrag.
Psychische Belastung im Job nimmt zu
Die Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt: 1950 arbeitete nur ein Drittel der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor, jetzt sind es 75 Prozent. 2018 schloss das letzte Bergwerk in NRW. Von einer halben Million Kumpel bleiben 600 Bergarbeiter, die noch eine Weile mit dem Rückbau beschäftigt sind. Heute ist mindestens jede:r zweite Beschäftigte in Deutschland ein:e Dauersitzer:in. Krankheiten sind vorprogrammiert. Warum steigen seit Jahren die Arbeitsunfähigkeitsfälle aufgrund von Burn-out-Erkrankungen? Warum beklagt eine große Mehrheit der deutschen Betriebsräte, in Deutschlands Unternehmen nehme der Druck auf die Beschäftigten stetig zu? Mittlerweile können ein Viertel der Beschäftigten die von ihnen geforderte Arbeitsmenge nicht in der vereinbarten Arbeitszeit bewältigen. Die einst schwere körperliche Arbeit wandelt sich zunehmend in psychische Belastung. Trotzdem gibt es auch heute viele Menschen, die unter ausbeuterischer und körperlicher Lohnarbeit leiden. Auch die zunehmende Entgrenzung des Arbeitsmarktes birgt die Gefahr der Selbstausbeutung.
Mit meiner beruflichen Tätigkeit zähle ich mich selbst zum Dienstleistungssektor und glaube fest daran, dass die Leistung eines Politikers nicht von dessen beruflicher Qualifikation abhängig ist. Das gilt sowohl für Menschen ohne Abschluss als auch für die promovierte Ärztin. Eine fundierte Ausbildung hilft aber natürlich dabei, um sich in bestimmten Themen besser und schneller zurecht zu finden.
SPD muss umdenken
Als SPD müssen wir uns vom längst überholten Bild des Industriearbeiters aus dem letzten Jahrtausend verabschieden. Tatsache ist, dass der damals körperlich schwer arbeitende Bergarbeiter heute im Eiltempo von uns bestellte Pakete ausliefern muss und dann noch für das Parken in zweiter Reihe ein Bußgeld bezahlen darf. Das zeigt, dass wir als Partei umdenken und endlich sozialdemokratische Politik für das 21. Jahrhundert machen müssen.
Die gute Nachricht: Wir haben es selbst in der Hand. Entweder wir halten an dem überholten Bild des Arbeiters aus den 1970er Jahren fest oder wir stellen uns der Realität und verändern die Politik. Unsere Aufgabe als Sozialdemokratische Partei Deutschlands muss es sein, Beschäftigte im digitalen Zeitalter vor ausbeuterischen Arbeitsbedingungen zu schützen.