Belastbare Zahlen zur Armut in der Stadt Willich gibt es nicht. Der letzte Sozialatlas, der hier Licht ins Dunkle bringen könnte, wurde von der Verwaltung 2010 vorgelegt. Nach Aussage der Stadt habe dieser aufgrund Personalmangels nicht aktualisiert werden können. SPD-Anträge für eine Neuauflage wurden abgelehnt. Inzwischen versorgt die Willicher Tafel rund 800 Personen mit Lebensmitteln. Jetzt braucht die Hilfsorganisation selbst Unterstützung.
Tafeln in der Krise
Am 18.03.2023 treffe ich den Vorsitzenden der Willicher Tafel Andreas Stumpf und seinen Stellvertreter Klaus-Dieter Zober in den Fellerhöfen. Sie berichten mir, dass die Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die Inflation die Tafeln in ganz Deutschland in eine Krise gestürzt haben. Erhebliche Ausgaben zur Einhaltung der Hygieneregeln, der starke Anstieg der Anzahl bedürftiger Menschen durch Geflüchtete aus der Ukraine und nicht zuletzt die steigende Inflation haben dazu beigetragen.
Die Tafel-Idee
Die Tafeln in Deutschland sammeln qualitativ einwandfreie Lebensmittel, die im Wirtschaftsprozess nicht mehr verwendet werden, und verteilen diese an finanziell benachteiligte Menschen. Damit wollen die Tafeln einen Ausgleich zwischen Überangebot und Armut schaffen.
Die größten Herausforderungen der Tafeln seien die gestiegene Anzahl der Kunden bei einem gleichzeitigen Rückgang der Lebensmittelspenden. Dazu komme die psychische Belastung der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. In Willich sind das inzwischen rund 100 Menschen, die sich um die Abholung der Lebensmittel, deren Sortierung und Verteilung kümmern.
Willicher Tafel ist für 800 Menschen da
Seit 17 Jahren besteht die Tafel in Willich. Täglich von 07:30 – 17:30 Uhr sind 15 Helfer im Einsatz. Fünf Ausgabestellen gibt es im Stadtgebiet. Mittlerweile versorgt die Tafel ca. 220 Kunden, die zum Teil wiederum auch Kinder und Familien haben. So unterstützt die Willicher Tafel insgesamt 800 Menschen, Tendenz steigend. Denn aufgrund der Zuweisung von Geflüchteten aus der Ukraine und nach wie vor Flüchtlinge aus Syrien, Iran, Afghanistan und anderen Ländern steigt die Zahl der Menschen, die über wenig Geld verfügen.
Arumt in Deutschland
• 13,8 Mio. Menschen leben unter der Armutsgrenze
• Mehr als 2 Mio. nehmen regelmäßig das Angebot der Tafel in Anspruch
• ca. 17 Prozent der Bevölkerung sind arm und verfügen über weniger als 60 Prozent des mittleren Netto-Haushalts-Einkommens
Quelle: Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes 2022
Willicher Tafel benötigt neue Räumlichkeiten
Herr Stumpf und Herr Zober zeigen mir die Räumlichkeiten, in denen täglich ehrenamtlich gearbeitet wird. Dazu gehören Lagerräume, Sortierstellen, ein Kühlraum sowie ein Raum für die einzige hauptamtliche Bürokraft auf Minijobbasis. Schnell wird klar: Alles ist sehr eng und knapp bemessen. Schmale Türen und Treppen erschweren die tägliche Arbeit. Die ankommenden Lieferwagen müssen per Hand ausgeräumt werden. Platz für die Arbeit mit Hubwagen und Europaletten besteht nicht. Kurzum: Die Tafel in Willich ist auf der Suche nach neuen Räumlichkeiten als Zentrale und Ausgabe. Als Möglichkeit komme auch ein Neubau in Betracht. Aber bislang habe man kein geeignetes Grundstück finden können. Bei meinem Besuch sage ich zu, das Thema mit dem Bürgermeister und den anderen Fraktionen zu besprechen.
Ein kritischer Blick auf die Lebensmittelversorgung durch Tafeln
Die Tafeln in Deutschland bilden ein wichtiges Hilfe-System zur Linderung der Armut. Oder sorgen Sie dafür, dass Staat und Politik sich der Verantwortung entziehen können? Ich glaube, dass die Existenz der Tafeln in unserem reichen Land ein sozialpolitischer Skandal sind. Menschen in diesem Land haben nicht genug, um sich selbst zu versorgen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die ehrenamtliche Arbeit der vielen Helferinnen und Helfer kann nicht genügend Anerkennung und Wertschätzung finden. Die Mitarbeiter leisten Großartiges – aber ich befürchte nicht, weil sie wollen, sondern weil sie das Gefühl haben, es zu müssen.
Es muss das politische Ziel sein, die Notwendigkeit von Tafeln zu beseitigen. Denn die Tafeln können und werden an den Ursachen für Armut nichts ändern. Das ist Aufgabe der Politik von Land und Bund. Schirmherrschaften, Kampagnen und finanzielle Unterstützung der Tafeln mit Steuergeldern sind aus meiner Sicht der falsche Weg. Was wir brauchen ist ein Ende der staatlich verordneten Unterversorgung durch Hartz IV, jetzt Bürgergeld genannt.
Aktuell verlagert der Staat das Problem an Unternehmen und an das Ehrenamt. So können sich Sponsoren für ihre Spendenbereitschaft feiern lassen und Medien die Helden des Alltags feiern. Selbst Politiker lassen sich für ihre Unterstützung bejubeln. So hat Markus Söder das Bürgergeld blockiert und damit eine Entlastung für Millionen Menschen, die auch auf Lebensmittel der Tafeln angewiesen sind. Gleichzeitig sprang der CSU-Politiker als Aushilfe bei der Münchener Tafel ein und ließ sich dabei fotografisch in Szene setzen.
Selbstkritisch muss ich eingestehen, dass auch ich vor über zehn Jahren diesem Reflex verfallen war. 2012 gaben wir auf dem Weihnachtsmarkt in Anrath selbst gebackene Waffeln aus. Die Spenden überreichten wir später an die Tafel, wie dieser Zeitungsbericht belegt.
Was ich leider immer wieder höre ist, dass Jobcenter die Menschen an die Tafeln verweisen. Somit entledigt der Staat sich ganz bewusst seiner Verantwortung. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es, den Regelsatz endlich armutsfest zu machen. Die Armen in unserem Land müssen sich selbst mit Lebensmittel versorgen können. Ich empfinde es als beschämend, dass so viele Menschen in Deutschland und unserer Stadt bei der Tafel in der Schlange stehen müssen. Aber so lange auf Landes- und Bundesebene nichts passiert, ist es unsere Pflicht, die Tafeln zu unterstützen.